Berlin, Helsinki, Kaunas. Dynamische urbane Topographien der modernen Dichtung
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2017 |
Kaunas als provisorische Hauptstadt Litauens hat sehr lange den Mythos einer genuin litauischen Stadt gepflegt; Vilnius durfte sich als multikulturell und mehrsprachig sehen, Kaunas blieb dagegen im lokalen Selbstbewusstsein ‚litauisch‘. In den letzten Jahren scheint aber ein deutlicher Wandel der Selbstwahrnehmung stattzufinden, was nicht zuletzt mit der Aufwertung des multikulturellen Erbes, der Verleihung des Europäischen Kulturerbe-Siegels für die moderne Architektur der Zwischenkriegszeit im Jahr 2015 und der Bewerbung um den Titel der europäischen Kulturhauptstadt 2022 zusammenhängt. Um diese Selbstverwandlung erfolgreich zu vollziehen, benötigt die Stadt neue Ereignis- , Raum- und Heldenmythen (cf. Hein-Kircher 2006: 407−424). So werden z.B. neue touristische Routen entwickelt, bei denen nicht mehr die mono-ethnischen Erinnerungsorte, so etwa das Vytautas-Denkmal, sondern das internationale diplomatische Kaunas der Zwischenkriegszeit im Zentrum stehen. Auch im literarischen Bereich sind Transformationen vom nationalen zum europäischen Literaturdiskurs zu beobachten – gefeiert werden diejenigen Autoren, die in den europäischen transkulturellen Diskurs passen, so etwa die mobilen Avantgarde-Dichter der 1920er Jahre (Kazys Binkis, Juozas Tysliava, etc.) oder die heutigen im Ausland lebenden und als kosmopolitisch-urban geltenden litauischen Autoren und Autorinnen (Valdas Papievis, Zita Čepaitė, etc.). Neu entdeckt werden auch all die Fremden, die vorübergehend in Kaunas lebten und der Stadt durch ihren literarischen Ruhm das Image einer modernen europäischen Stadt verschafft haben: Nicht umsonst nehmen heute manche alternativen Stadtführungen ihren Anfang vor dem Haus, in dem sich in der Zwischenkriegszeit das schwedische Konsulat befand und in dem der junge finnlandschwedische Dichter Henry Parland (1908−1930) arbeitete.[...]
Serija: ISSN 2242-8887 (Tampere Studies in Language, Translation and Literature: B6)